Ukraine-Hilfe
04.04.2022

Auf 20 Rädern von Offenburg bis an die Grenze

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Hunderte Lastwagen mit gelb-blauen Fahnen und Aufdrucken fahren derzeit gen Osten. Viele davon bringen Sachspenden an die ukrainische Grenze und zu den Geflüchtetenlagern in Polen. "Solidarität mit der Ukraine" ist die Parole der Stunde. Auch Burda startet einen Hilfskonvoi. Volontärin Phillipka von Kleist hat diesen begleitet. Ein Tagebuch

Claus-Thomas Kuhn ist Director International Compliance bei Hubert Burda Media in Offenburg. Als er die ersten Bilder des Krieges, der Not und des Leids der Ukraine im Fernsehen sah, war ihm sofort klar: er will helfen. Eine Woche Sonderurlaub plante der 61-Jährige ein, um privat einen Spendentransport Richtung ukrainische Grenze auf die Beine zu stellen. Doch das war nicht nötig, denn auch Burda wollte helfen und beauftragte den ehemaligen Reserveoffizier, eine Hilfsaktion zu organisieren. Keine zwei Wochen später rollt ein zweizügiger LKW mit 10 Tonnen Hilfsgütern der Mitarbeiter:innen in Offenburg auf die Autobahn. Zunächst nach München, von wo es nach nur kurzem Lade-Stopp weiter Richtung Osten geht. Siebenlehn/ Dresden heißt das nächste Ziel.­

S-Bahnhof Radebeul Ost, 17. März 2022, 12:45

Nur wenige Menschen steigen aus, hier in Radebeul-Ost, einem Stadtteil im Norden von Dresden. In meinem Waggon bin ich die Einzige. Insgesamt drei Personen verlassen mit mir den kurzen Zug. Auf dem Bahnsteig halte ich Ausschau nach Claus-Thomas Kuhn und seinem Kollegen Andreas Heinrich, die hier auf mich warten wollen. Auf der anderen Seite der Gleise stehen Autos auf einem kleinen Parkplatz. Zwischen den PKWs sticht ein weißer Transporter mit aufgeklebter gelb-blauer Fahne und großer schwarzer Aufschrift heraus: „Support Truck für Ukraine“. Das werden sie sein. Zwei Männer in weißen Sweatshirts und gleichem Aufdruck wuseln um das Auto herum. Einer telefoniert, der andere läuft zwischen Fahrertür und Kofferraum hin- und her. Als ich meinen Trolley über den Schotterweg zwischen Bahnhof und Parkplatz ziehe, schauen sie rüber. Beide lächeln und winken. „Hallo, hier her“, ruft mir Andreas Heinrich freudig zu. Normalerweise arbeitet Andreas als Ad Prepress Manager bei Burda in Offenburg. In den nächsten Tagen wird er einen der drei Vans an die ukrainische Grenze fahren. 

Radebeul-Ost – Breslau, 17. März 2022

„Drei Stunden brauchen wir etwa nach Breslau – unser nächster Halt“, sagt Claus-Thomas Kuhn, der neben Andreas Heinrich auf dem Beifahrersitz Platz nimmt. Er dreht sich nach hinten zur Rückbank des Achtsitzers. „Dort laden wir noch einmal um“. Dort kommen am Freitag die letzten Hilfsgüter aus Prag und Warschau an. Wie in Offenburg, München, Hamburg, Berlin, Dresden und Siebenlehn wurden auch dort Spenden der Mitarbeiter:innen gesammelt, sortiert und gepackt. Medikamente, Babynahrung, Hygieneartikel, Kinderwagen, Feldbetten, Matratzen, warme Decken und Verbandskästen: Insgesamt 10 Tonnen sind zusammengekommen, erklärt Kuhn weiter. „Großartig, oder?“, sagt er und lächelt.

Radebeul-Ost liegt direkt an der Autobahn. Vom Parkplatz des S-Bahnhofs sind es nur fünf Minuten zur A4, über die man auf schnellsten Wegen über Görlitz nach Breslau gelangt. Die Straßen sind frei, die Fahrt verläuft ruhig. Nur Thomas Kuhns Handy klingelt immer wieder. Dann gibt der Projektleiter seinen Anrufern Ankunftszeiten durch, beantwortet Fragen zur Reiseroute – mal auf englisch, mal auf deutsch – und nennt die Namen der Hotels, in denen wir auf der Hinfahrt übernachten werden. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen schaut er dabei aus dem Fenster. Die Felder und Wälder ziehen an ihm vorbei, die kahlen Winter-Landschaften, er nimmt sie kaum wahr – so scheint es. Sein Blick ist nicht ernst, aber konzentriert. „Bis jetzt läuft alles nach Plan“, sagt Claus-Thomas Kuhn am Telefon. Mittlerweile ist es 16:30 Uhr, wir haben die Autobahn verlassen und fahren die letzten Kilometer zum Hotel über Land.

Burda International, Breslau, 18. März 2022, 08:30

„Willkommen, willkommen“, ruft Justyna Namieta mit ausgestreckten Armen und einem breiten Lächeln. Die Mitgeschäftsführerin von Burda International in Breslau steht in der Haustür des hellgrauen Bürogebäudes – einem kleinen, modernen Reihenhaus im Industriegebiet außerhalb der Stadt. Dann trudelt auch der Rest des Teams ein: Volodymyr Zhadlun, Harm Heibült, Fabian Rossa und Christian Rau rollen mit Van zwei und drei auf den Parkplatz des Büros. Auch der Bulli aus Prag mit den übrigen Hilfsgütern trifft kurz danach ein.

„Die Sachspenden aus Polen passen hier noch rein, dann ist der LKW aber voll“, erklärt der LKW-Fahrer Darek während er die Türen seines Wagens öffnet. Er winkt den zurückfahrenden Van aus Prag heran, bis auf zwei Meter. In der Lücke zwischen den Fahrzeugen bilden sich die anderen Fahrer zu einer Kette, um die Kartons, Paletten und Säcke schneller umzuladen. „Hopp“, „Fang“, „Nächste Kiste“, rufen sich Harm, Thomas, Fabian, Andreas, Volodymyr und Christian zu, die Rücken an Rücken stehen. 10 Minuten Menpower und die übrigen Spenden sind verladen. Zusammen mit seinem Kollegen Helmut fährt Darek den zweizügigen Truck Richtung Grenze, erklärt Claus-Thomas Kuhn, der indes das Team auf dem Parkplatz zusammengetrommelt hat und letzte Anweisungen gibt. Im Halbkreis formiert hört die Truppe ihrem Projektleiter aufmerksam zu. Obwohl die anderen Fahrer um einiges größer sind, als er, weiß sich der ehemalige Reserveoffizier Gehör zu verschaffen. Mit kräftiger und klarer Stimme erklärt er dem Team die weitere Planung und Reiseroute: Kolonne bis Katowice, Umladen in einen ukrainischen LKW der griechisch-orthodoxen Kirche der ukrainischen Kirchengemeinde in Lwiw, Treffen mit dem stellvertretenden Bürgermeister vor Ort.

Nun ist auch Anna Paliychuk aus Warschau eingetroffen. Die Ukrainerin lebt dort aktuell mit ihrem Mann und den drei Kindern im Gästezimmer von Freunden. Auch sie ist geflüchtet. Anfang März, als Kiew zunehmend unter Beschuss russischer Truppen geriet, hat die Familie ihre Heimatstadt verlassen. Schweren Herzens, wie sie später erzählt. Mit ihrem Mann habe sie lange diskutiert, ob er mitkommt oder für die Ukraine kämpft. Männer im Alter von 18-60 Jahren müssen eigentlich im Land bleiben. Doch jene, die drei Kinder oder mehr haben, dürfen gehen. Anna gehört zu den wenigen Frauen, die sich nicht von ihrem Mann verabschieden mussten.

Die 40-Jährige hat über 15 Jahre für Burda in der Ukraine gearbeitet, spricht fließend englisch und natürlich ukrainisch. Sie hat angeboten die Reise zu begleiten und vor Ort – an der Grenze – zu unterstützen. Nachdem die Sachspenden an die Hilfsorganisationen übergeben sind, geht es darum Ukrainer:innen zu finden, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Claus-Thomas Kuhn und sein Team haben nicht nur Hilfsgüter, sondern auch Unterkünfte für Geflüchtete im Raum München organisiert.

Breslau – Katowice, 18. März, 2022

Auf dem Weg nach Katowice ist viel los. Je östlicher wir fahren, umso mehr Autos tummeln sich auf der Autobahn. Immer wieder passieren uns andere LKWS und Vans, die ihre Rückbänke und Kofferräume vollgepackt haben mit Kartons und anderen Hilfsgütern. Aus einigen Wagen wehen ukrainische Flaggen, manche Autos hupen, dann winken wir uns gegenseitig zu. Auch die elektronischen Autobahnschilder erleuchten alle paar Kilometer in blau-gelben Farben. Die Solidarität mit der Ukraine, sie ist auch hier auf den Straßen zu spüren.

Anna sitzt neben mir auf der Rückbank des Vans. Sie hält ihr Handy fest in der Hand. Alle paar Minuten öffnet sie Telegram. Mit ihren Freund:innen und ihrer Familie versucht sie Kontakt zu halten, schreibt Nachrichten, telefoniert. Über die Messenger-App liest sie aber auch die neusten Entwicklungen zur aktuellen Lage in der Ukraine. „Es ist wie ein News-Feed“, erklärt die 40-Jährige. Sie hat Familie in Mariupol und seit Wochen nichts mehr von ihnen gehört. „Ich hoffe, sie leben“, sagt Anna mit leicht zittriger Stimme. Sie presst ihre Lippen zusammen und guckt aus dem Fenster. Ihre Gefühle versucht sie in Schach zu halten, sie will sich zusammenreißen, nicht weinen, so scheint es. Durch den Beschuss russischer Militäreinheiten hat die Stadt keine Elektrizität mehr. Die Menschen können ihre Handys nicht aufladen, auch Netz haben sie keines. Telefonmaste wurden bei Raketenangriffen getroffen, dadurch sind die Verbindungen gekappt.

Katowice, 18. März 2022

Früher als geplant, gegen 15 Uhr, erreichen wir Katowice. Auf dem Gelände einer Lagerhalle, wo Sachspenden aus dem ganzen Land verwahrt werden, treffen wir uns mit dem stellvertretenden Bürgermeister der Stadt Krzysztof Wieczorkowski. Er bescheinigt uns die Übergabe unserer Hilfsgüter an die Kirche in Lwiw. Auch dort – im äußersten Westen der Ukraine – erleben die Menschen seit ein paar Tagen vermehrt Raketenangriffe. Womöglich wird ein Teil der gesammelten Hygieneartikel, Lebensmittel, Decken und Kinderwagen dortbleiben. Der Rest wird weiter ins Land verteilt.

Dafür müssen die Sachspenden aber erstmal über die Grenze in die Ukraine transportiert werden. Das übernimmt Juri. Er ist Ukrainer und lebt mit seiner Familie in Lwiw. Seine Frau ist Krankenschwester und arbeitet in einer städtischen Klinik. Er habe sie seit Tagen schon nicht mehr gesehen. Sie komme nicht mehr nach Hause, sagt er. Nicht, weil sie festgehalten oder es von ihr verlangt wird. Sie wolle nicht, sie müsse helfen, sie könne nicht anders, sagt Juri. Zwei Töchter und eine Enkeltochter hat das Paar. Bis auf Juri könnten sie das Land verlassen, aber sie wollen nicht. Zumindest jetzt noch nicht.

Die Hälfte unserer Sachspenden befindet sich nun in Juris LKW. Wir verabschieden uns von ihm und wünschen ihm eine sichere Reise. Auch für uns geht es weiter. Auf der knapp dreistündigen Fahrt zu unserem Hotel in Rzeszów sprechen wir nur wenig. Die Worte von Juri, sie hallen nach. Um etwa 19:30 Uhr kommen wir schließlich in der 200.000-Einwohner-Stadt im Osten des Landes an. Von dort sind es nur noch rund 90 Kilometer zur polnisch-ukrainischen Grenze.

Rzeszów, 19. März 2022, 05:30

Draußen ist es noch dunkel, als wir in die Vans am Hotel in Rzeszów einsteigen. Und still. Die Stadt scheint noch zu schlafen. Bis auf ein paar Vögel, die singen und zwitschern schon. Selbst auf der Schnellstraße, die an der Unterkunft vorbeiführt, zischen nur wenig Autos vorbei. „Alle fit?“, fragt Claus-Thomas Kuhn und dreht sich nach hinten zur Rückbank. „Heute wird ein langer Tag werden“, sagt er, als wir vom Hotelparkplatz herunterfahren. Das Navi zeigt eine Stunde und sieben Minuten Fahrtzeit an bis zu unserem nächsten Treffpunkt. Ein Lagerplatz außerhalb von Przemyśl. Dort geben wir den zweiten Teil unserer Sachspenden ab, dieses Mal an den Rotary Club von Lwiw.

Unser LKW ist schon da, als wir ankommen. Auf dem Hof stehen noch andere Trucks, Vans und auch Feuerwehrautos aus Polen und Deutschland. Es ist ein Umschlagplatz für Hilfsorganisationen und freiwillige Helfer:innen. „Unser Slot ist um sieben Uhr, dann laden wir um in diesen LKW“, sagt Claus-Thomas Kuhn und zeigt auf einen weißen Truck, der auf der anderen Seite des Geländes neben einer großen Lagerhalle steht.

Kurze Zeit später, um 07:30 Uhr ist alles erledigt. Die letzten Hilfsgüter sind verladen und werden im Laufe des Tages von einem ukrainischen Fahrer nach Lwiw gebracht. Für uns geht es nun weiter in die Stadt zu einer Schule. Dort wartet die erste Familie auf uns, die wir mit nach Deutschland nehmen. Anna kennt die Mutter flüchtig aus Kiew. Sie hat im Vorfeld Kontakt mit ihr und den beiden Söhnen aufgenommen und ihnen unsere Hilfe angeboten.

Die Schule liegt in einem Wohngebiet von Przemyśl. Vor dem gelben Gebäude stehen zwei Frauen. Beide tragen dicke Jacken, Sneakers und Jogginghosen. Eine telefoniert und raucht dabei, die andere tippt mit einer Hand auf ihrem Smartphone, an der anderen hält sie ein kleines Mädchen mit rosa Wollmütze und einem grauen Daunen-Overall. Vermutlich ihre Tochter. Das Handy ist für die Geflüchteten der wichtigste Gegenstand in ihrem Gepäck, erzählt Anna. In den Grenzregionen erhalten Geflüchtete bei ihrer Ankunft SIM-Karten, zum Teil auch Prepaid-Handys. So haben sie die Chance, mit ihren Familien und Freunden in Kontakt zu bleiben und zu erfahren, ob sie noch leben.

Die Mutter und ihre zwei Söhne machen noch einen Corona-Schnelltest am Auto, bevor wir weiterfahren. Alle drei tragen einen Rucksack auf dem Rücken, die Frau hat noch eine Handtasche dabei, die sie sich um ihren Oberkörper gebunden hat. Mehr Gepäck haben sie nicht. Wir versorgen sie mit Getränken und Snacks, geben ihnen Decken und ein Kissen für die Fahrt. Sie gucken kurz zu uns rüber und nicken dankend. Dann schauen sie auf den Boden. „Vielen Ukrainern ist es unangenehm Hilfe anzunehmen“, erklärt Volodymyr Zhadlun. Er arbeitet für den BurdaVerlag in München und fährt einen der Vans. Bis er vor etwa vier Jahren nach München gezogen ist, hat er in Kiew gelebt. „Das ukrainische Volk kennt es nicht, wenn man ohne Gegenleistung Essen, Trinken oder andere Zuwendungen bekommt. Das erste, was die Menschen fragen, wenn sie hier ankommen, ist: Wo kann ich arbeiten?“. Seit etwa drei Wochen fährt Volodymyr privat jedes Wochenende an die Grenze und hilft dabei, Ukrainer nach Deutschland zu bringen.

Przemyśl Bahnhof, 19. März 2022, 08:30

Wir erreichen den Bahnhof in Przemyśl. Die 65.000-Einwohner-Grenzstadt im Osten von Polen ist seit Kriegsbeginn zu einem Dreh- und Angelpunkt an der Hauptstrecke zwischen dem ukrainischen Lwiw und Krakau geworden. Für viele Geflüchtete ist es eine erste Anlaufstelle. So auch für die zweite Familie, mit der Anna in Kontakt steht und die wir hier abholen. Die Frauen kennen sich über Freunde aus Kiew. Von gemeinsamen Abendessen und Partys. Oft haben sie zusammen getanzt, gefeiert, hatten Spaß. Jetzt ist Krieg und die Frau musste ihren Ehemann zurücklassen. Die Familie ist erschöpft. Unter den Augen zeichnen sich dunkle Schatten ab, die Arme hängen an den Oberkörpern der Kinder schlaff herunter. Die Mutter hält ihren siebenjährigen Sohn im Arm, sie lächelt leicht. „Thank you for everything“, sagt sie und steigt in den Van, der sich auf den Weg nach München macht.  

Hier am Bahnhof von Przemyśl kommen jeden Tag mehrere Züge aus der Ukraine an. Die Verspätungszeiten wachsen und werden selten aktualisiert; niemand weiß, wann welcher Zug ankommt. Trauben von Menschen tummeln sich vor dem Eingang des Bahnhofs. Vor allem Mütter und Kinder, aber auch alte Frauen und ein paar Männer stehen hier mit ihren kleinen Koffern, Rucksäcken und Plastikbeuteln. Augenringe, Sorgenfalten, Erleichterung zeichnen ihre Gesichter. „Planänderung, wir fahren nicht an die Grenze in Medyka“, sagt Claus-Thomas Kuhn. Er steht neben den zwei übrigen Vans, um ihn herum versammelt der Rest des Teams. „Hier sind so viele Geflüchtete. Wir bleiben und versuchen hier Familien zu finden, die wir mitnehmen können.“

Anna, Volodymyr und ich machen uns auf die Suche, die anderen bleiben bei den Autos. Die beiden kommen aus der Ukraine, kennen das Volk und sprechen die Sprache. Das erleichtert die Suche, so denken wir. In der Bahnhofshalle fragen wir Helfer von der gemeinnützigen Organisation Caritas nach einem Stift und einem Zettel. Wir wollen in ukrainisch aufschreiben, was wir anbieten können: „Fahrt nach und Unterkunft in München“. Eine Frau in gelber Weste schaut zu uns rüber. Sie zieht ihre Augenbrauen zusammen und verschränkt die Arme. Als wir loslaufen, schaut sie uns skeptisch hinterher. Einige Menschen bleiben stehen, lesen, was auf dem Schild steht, gehen dann aber weiter. Anna spricht mit ein paar von ihnen und auch mit anderen Helfer:innen. „Einige hier hielten uns für Schlepperbanden und wollten uns gerade bei der Polizei melden.“ In den vergangenen Tagen kam es zu ähnlichen Vorfällen. In den Nachrichten wurde schon viel darüber berichtet. Die Menschen sind vorsichtig geworden, die Geflüchteten sollen sich vor allem an große Hilfsorganisationen wenden, von privaten Reiseangeboten Abstand nehmen. Das Missverständnis konnten wir schnell klären. Schon als wir am Bahnhof angekommen sind, haben wir uns bei der Polizei vor Ort registriert und ihnen unsere Mission erklärt. Sie ließen uns durch und obwohl die Straßen und Durchfahrten für ankommende Busse und Transporter frei bleiben müssen, erhielten wir eine Park- und Aufenthaltserlaubnis. 

In der Wartehalle ist es stickig. Ein beißender Geruch aus Schweiß und Essen liegt in der Luft. Vereinzelnd sind Feldbetten aufgeschlagen, überall drängen sich Menschen, alte Frauen und Kinder sitzen auf dem Boden. Manche von ihnen schauen hoch zu den Wänden und der Decke. Diese sind mit Stuck verziert; vergoldete Kronleuchter hängen herunter. Der malerische Bahnhof im Stil der Gründerzeit ist seit den 1970er Jahren Schauplatz historischer Filme. Dutzende polnischen Filmproduzenten haben in dem Gebäude gedreht. Jetzt werden hier Kleider, Essen, Wasser und Spielzeuge verteilt.

Wir irren weiter durch den Bahnhof. Anna und Volodymyr sprechen Frauen und Familien an, fragen sie, ob sie Hilfe brauchen, erklären ihnen, dass wir Hilfe anbieten können. In den organisierten Unterkünften in München ist Platz für eine Familie mit sechs Personen und zwei Mal eine Mutter mit jeweils einem Kind. Das schränkt unsere Suche ein. „Die wenigsten reisen allein“, sagt Anna. Viele Frauen tuen sich zusammen mit einer Freundin, der Mutter oder der Tante. Oft sind sie zu zweit oder zu dritt, plus die Kinder. Und dann, sobald sie die Flucht aus den bombardierten Städten über die Grenze geschafft haben, möchten sie sich nicht trennen. Hinzu kommt, dass viele auch nicht nach Deutschland wollen. „Die geflüchteten Frauen versuchen häufig in Polen zu bleiben, um ihren Männern so nah wie möglich zu sein“, erklärt Volodymyr. Andere wiederum wollen Europa ganz verlassen. So wie eine Familie aus der Nähe von Kiew, mit der Anna spricht. „Die planen nach Kanada zu reisen“, sagt sie mit großen Augen. 

Zwei Stunden nach Beginn unserer Suche treffen wir vor dem Bahnhof auf zwei junge Frauen mit drei Kindern und einer alten Frau. Sie sind gerade mit dem Zug aus Saporischschja angekommen, einer Stadt im Südosten der Ukraine. Ihre tiefen Augenringe, die schlaffe und schiefe Haltung, die Flucht, sie ist ihnen anzusehen. Mehr als 1000 Kilometer haben sie hinter sich gebracht. Mit dem Zug und zu Fuß. Anna spricht mit ihnen, sie mustern uns und tuscheln miteinander. Dann schauen sie hoch und nicken. Sie sind bereit weitere 1000 Kilometer auf sich zu nehmen, um mit uns nach München zu fahren. Endlich kann nun auch der zweite Van seine Rückreise antreten.

Przemyśl Bahnhof – Dresden, 19. März 2022, ca. 12:30

Zwölf Stunden zeigt das Navi an. So lange brauchen wir von Przemyśl nach München mit Zwischenstopp in Dresden, wo ich abgesetzt werde. Die Fahrt verläuft ruhig und ohne Stau. „Am Wochenende sind die Autobahnen leer“, sagt Volodymyr, der die Strecke schon oft gefahren ist. Auf den Rückbänken ist es leise geworden. Eben noch zeigten sich die Kinder, ein fünfjähriges Mädchen und zwei Jungen im Alter von fünf und acht, fröhlich und lautstark ihre Süßigkeiten, die sie von Helfer:innen am Bahnhof und von uns bekommen haben. Jetzt, 45 Minuten später, schlafen sie. Ihre Köpfe lehnen an der Schale des Kindersitzes, die Mundwinkel hängen runter. Die Anspannung fällt ab.

Nach zweieinhalb Stunden übernimmt Harm das Steuer. Volodymyr dreht sich zu Anastasia und Natasha um, die auf der Rückbank hinter uns sitzen. Die 27-jährigen Frauen sind Freundinnen, sie kennen sich aus der Grundschule. Sie sind froh, die Kinder nun in Sicherheit zu wissen, eine Unterkunft zu haben und zusammen zu sein. Vor ein paar Tagen haben sie beschlossen zu flüchten. Saporischschja ist nur 230 Kilometer von Mariupol entfernt. Die russischen Truppen, so fürchteten sie, würden auch bald ihre Stadt attackieren. Luftangriffe habe es schon gegeben. Wenn der Krieg vorbei ist, wollen die Frauen zurückkehren. „Das wird aber noch Monate dauern, mindestens“, sagt Natasha. Jetzt bleiben sie erstmal in Deutschland. Wie es hier für sie weitergeht und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, wissen sie noch nicht. „Aktuell leben wir von Tag zu Tag“, sagt Anastasia.

Inzwischen erreicht uns die Nachricht, dass auch der dritte Van auf dem Weg nach München ist. Nach weiterer langer Suche haben Anna, Thomas und Andreas noch zwei Mütter mit zwei Kindern gefunden, die mitwollten. Eine der beiden haben sie aber nach einer halben Stunde wieder zurück zum Bahnhof bringen müssen, die Frau änderte ihre Meinung und wollte doch nicht nach Deutschland. Warum, haben sie nicht erfahren. Dafür holt Anna ihre Familie von Warschau nach München, schreibt Thomas. Sie können die Unterkunft übernehmen. Eine gute Nachricht.

Es ist dunkel, als wir die S-Bahn-Station Dresden-Trachau erreichen. „Sind wir endlich da?“, fragt eines der Kinder. Der kleine Junge reibt sich die Augen, er ist gerade wach geworden. Volodymyr erklärt unseren Mitreisenden, dass nur ich aussteige und von hier mit dem Zug weiter nach Berlin fahre. „бувай heißt tschüss auf ukrainisch“, sagt Volodymyr. Ich versuche es richtig auszusprechen und winke den Frauen und Kindern zu. „Bye bye“, rufen sie mir lächelnd entgegen.

Später bekomme ich noch eine Nachricht von Thomas und Harm. „Mission completed (…) Alle sind sicher und wohlauf in München angekommen“, schreiben sie. „Die Familien scheinen sehr froh über die Unterkunft zu sein“. Auch ich bin es. Mit der Hilfsaktion konnten wir insgesamt 19 geflüchteten Menschen helfen und viele weitere mit Spenden unterstützen. Ein gutes Gefühl.

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Weitere Impressionen & Downloads

Die Route des Trucks führt ab Dresden über 800 km nach Przemyśl, (c) Google Maps

In Breslau werden weitere Sachspenden aus Polen in den Burda-Truck geladen, (c) Phillipka von Kleist

Das Helfer-Team von Burda und die Fahrer haben 10 Tonnen Hilfsgüter von Offenburg an die Grenze zur Ukraine gebracht, (c) Phillipka von Kleist

Claus-Thomas Kuhn erklärt die nächsten Schritte und die weitere Reisroute, (c) Phillipka von Kleist

Der Bahnhof der Grenzstadt Przemyśl ist für viele Geflüchtete die erste Anlaufstelle, (c) Phillipka von Kleist

Viele Geflüchtete haben bereits mehrere 1000 Kilometer hinter sich gebracht, (c) Phillipka von Kleist

Helfer:innen am Banhnhof verteilen Süßigkeiten an die Kinder, (c) Phillipka von Kleist

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