Auszug aus einem Interview mit Hans Reiss (1922 – 2020) im Jahr 2009*

Sie sind großbürgerlich in einem Haus am Mannheimer Luisenring aufgewachsen ...

Hans Reiss Ja, ich hatte ein stattliches Elternhaus. Ich war der einzige Sohn von Berthold Reiss, dem Besitzer der Druckerei Gebrüder Bauer, und von Maria Petri, die vor der Ehe Schauspielerin am Mannheimer Nationaltheater war. Wir lebten in einer Acht-Zimmer-Wohnung mit Teezimmer, Herrenzimmer und Musikzimmer. Am Tisch im großen Esszimmer fanden 14 Personen Platz. An den Wänden hingen imposante Ölporträts meiner Großeltern.

Ihr Vater war Jude, Ihre Mutter Protestantin. In welchem Glauben sind Sie erzogen worden?

HR Im Gymnasium hatte ich jüdischen Religionsunterricht. Mein Vater ging zweimal im Jahr in die Synagoge, ein- oder zweimal hat er mich mitgenommen. Ich fand das todlangweilig. Die Frauen haben sich in dem Gotteshaus über das Mittagessen unterhalten. Wie ehrfurchtsvoll empfand ich die Stille, als ich die Gottesdienste meiner methodistischen Schule in Irland besuchte. In Heidelberg lernte ich den Theologen Hermann Maas kennen, ein evangelischer Pfarrer und Pionier des jüdisch-christlichen Dialogs. Er war vielleicht der bedeutendste Mann, den ich je in meinem Leben kennengelernt habe. Ich habe mich taufen lassen.

Ihr Vater war ein erfolgreicher Unternehmer ...

HR Ja, unsere Druckerei war die größte in Südwestdeutschland. Mein Vater hatte im Ersten Weltkrieg als patriotischer Deutscher Kriegsanleihen gezeichnet und in der Schweiz und in Holland angelegtes Geld nach Deutschland transferiert. Den größten Teil seines Vermögens hat er durch die Inflation verloren. Dennoch bestellte er 1928 auf der Leipziger Messe eine große Tiefdruckmaschine, die erste in Deutschland. Eine weitere folgte. Wir hatten 250 bis 350 Angestellte und Arbeiter.

Äußerte sich Ihr Vater zu den politischen Veränderungen in Deutschland?

HR Nachdem Hindenburg 1932 die Reichstagswahlen gewonnen hatte, schien mein Vater nicht besonders besorgt zu sein, meine Mutter auch nicht. Auch als Hitler 1933 an die Macht kam, vertrat er den Standpunkt, dass in der Politik nie so heiß gegessen wie gekocht wird. Er fühlte sich als Deutscher.

Im April 1933 wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Betraf das auch die Druckerei?

HR Die Firma meines Vaters litt nicht daran, dass ihre Besitzer Juden waren. Im Gegenteil, es war ein deutlicher Aufstieg zu bemerken. Mein Vater war optimistisch.

Sie waren damals zehn Jahre alt. Hat sich in Ihrem Leben etwas verändert?

HR Ostern 1933 bekam ich in der Schule nur eine Belobigung, aber keinen Preis, obwohl er mir zugestanden hätte. In der Schule mussten wir die Lehrer mit dem Hitler-Gruß grüßen.

1938 folgten Gesetze, die Ihren Vater zum Verkauf der Firma zwangen. Erinnern Sie sich?

HR Ein Papiermakler namens Kahn kam in das Büro meines Vaters und sagte ihm, er glaube, Dr. Franz Burda, der eine keineswegs große Druckerei in Offenburg besaß, aber eine erfolgreiche Rundfunkzeitung, die SÜRAG, herausgab, wäre eventuell am Kauf der Firma interessiert. Mein Vater und Franz Burda haben sich sofort gut verstanden. Sie arbeiteten noch ein Jahr in der Firma zusammen und saßen sich im Chefbüro gegenüber.

Spielten Ihre Eltern nie mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen?

HR Mein Vater sagte immer, so lange wir noch in unseren vier Wänden sind, ist alles nicht so schlimm.

Am 10. November 1938 verwüsteten Nazi-Schergen die elterliche Wohnung und verhafteten Ihren Vater. Hat Franz Burda davon etwas mitbekommen?

HR Ja, er kam als einer der Ersten in die Wohnung, um seine Hilfe anzubieten.

Ihre Eltern überlebten die Nazi-Herrschaft in Heidelberg, Sie selbst flüchteten 17-jährig alleine nach Irland. Wann kamen Sie erstmals wieder nach Deutschland?

HR Ende Mai 1945 erhielt ich eine Mitteilung des Roten Kreuzes, dass meine Eltern überlebt haben. Im Juni 1946 reiste ich als irischer Staatsbürger nach Heidelberg. Dort lebten meine Eltern in einer Parterrewohnung.

Gab es für Ihren Vater und Sie eine Möglichkeit, wieder in die Druckerei einzusteigen?

HR Die Fabrik war zerstört, doch Franz Burda hatte die Tiefdruckmaschinen vorausschauend nach Lahr-Dinglingen bringen lassen. Auch einige Arbeiter und Angestellte hatte er übernommen. Mein Vater war ein alter Mann geworden. Er war 71 Jahre alt und wollte sich nicht mehr an der Firma beteiligen. Er erhielt von Franz Burda eine Nachzahlung und eine Pension. Ich selbst hatte nicht den Wunsch, in die Firma einzutreten. Ich wollte Hochschullehrer werden.

Dass Franz Burda direkt nach dem Krieg weiter als Drucker und Verleger arbeiten konnte, hat er auch ihrem Vater zu verdanken.

HR Ja, er reiste mit ihm nach Baden-Baden und sagte für ihn vor der französischen Militärregierung aus.

Können Sie sich an frühe Begegnungen mit der Familie Burda erinnern?

HR Aenne und Franz Burda kamen zum 75. Geburtstag meines Vaters nach Heidelberg. Der Senator schenkte ihm eine Reise nach Badenweiler, die er aber leider nicht mehr antreten konnte. Ich bin dann mit meiner Mutter gefahren. Während der Anreise haben wir Station bei Burdas in Offenburg gemacht. Dort lernte ich Hubert kennen, der damals zehn Jahre alt war. Nach meiner Verlobung mit Linda waren wir oft in Offenburg zu Besuch.

Wurde die Freundschaft Ihres Vaters mit Franz Burda weitervererbt?

HR Sozusagen. Franz Burda sorgte nach dem Tod meines Vaters für meine Mutter. Franz und Aenne kamen zur Taufe unseres Sohnes Thomas nach Bristol und Franz übernahm die Patenschaft. Aenne wurde Patin unseres jüngeren Sohnes Richard.

Gibt es diese enge Verbindung auch zu den Burda-Söhnen?

HR Franz und seine Frau Christa kamen nach Bristol, als mir eine Festschrift anlässlich meiner Emeritierung verliehen wurde. Frieder unterstützt die künstlerische Arbeit meiner Frau, und Hubert sorgt sich sehr um unser persönliches Wohlergehen. Ich bin sehr froh, dass er es gemeinsam mit Michael Krüger vom Hanser Verlag ermöglicht hat, dass meine Biografie erscheinen konnte. Die Freundschaft mit der Familie Burda hat meinen geistigen und seelischen Lebensraum sehr bereichert, wofür ich allen Grund habe, sehr dankbar zu sein.

* zuerst erschienen in „Ute Dahmen: Senator Dr. Franz Burda. Geschichten eines Lebens“, Petrarca Verlag 2011, S. 50-51

Literatur zu Hans Reiss

  • Hans Reiss: Erinnerungen aus 85 Jahren, Petrarca Verlag, ISBN 978-3871150074
  • Hans Reiss: Exile and Good Fortune – Memoirs from 95 Years, Petrarca Verlag, ISBN 978-3889781116
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